Dienstag, 3. Oktober 2017

Warum die "deutsche Einheit" kein Grund zum Feiern ist

Wenn eine Mauer fällt, hinter der viele Menschen eingesperrt waren, dann ist das meistens erfreulich. Auch der Sturz des SED-Regimes war damals längst überfällig und ist als positiv zu bewerten. Die neugewonnene Reisefreiheit kann man vielleicht ebenfalls feiern. Doch all das ist nicht der Anlass dieses Feiertags, sondern der Akt der nationalen Wiedervereinigung bzw. der Anschluss der DDR an die BRD. Selbstverständlich wird nicht hingeschaut, ob es denen, die damals im Vorfeld auf die Straße gingen, nun wirklich besser geht oder ob sie ihre politischen Ziele erreicht haben. Die Hauptsache: Ein Staat, ein Volk, eine Kanzlerin (zufällig eine ehemalige DDR-Bürgerin) für die zuvor lange geteilte Nation. Da dürfen dann auch - ähnlich wie bei der WM - Menschen mitfeiern, die sonst als Prügelknaben herhalten müssen, wie beispielsweise Erwerbslose oder "gut integrierte" (also sich "deutsch fühlende und verhaltende") Migrant*innen.
 
Herrschaft und Untertanen feiern gemeinsam die Nation und vielen Untertanen fällt nach wie vor nicht auf, dass die Interessen der Nation, des Staates, des Wirtschaftsstandorts nicht auf ihr Wohlergehen ausgerichtet ist, sondern umgekehrt: Nur wenn die Untertanen sich dem Profitstreben dienstbar machen (also z.B. niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen), können die entsprechende Gewinne erzielt werden, die insgesamt "das Land" voranbringen. (Die Agenda 2010 zum Beispiel hat viele Menschen in Armut gestürzt - Deutschland hat in der Standortkonkurrenz jedoch genau davon profitiert.) Staat, Nation und Volk sind immer ausschließende Konstrukte, egal ob Demokratie oder Diktatur, egal wie "vielfältig" und "tolerant" das Land eingerichtet ist. Es gibt immer die, die dazu gehören und diejenigen, die nicht dazu gehören. Wer zu welcher Gruppe gehört, darüber streiten sich Parteien, politisch interessierte Bürger*innen und der Stammtisch in der Kneipe.

Man ist stolz auf sein Land. Vor zwei Jahren noch auf die Vielfalt, auf die Willkommenskultur. Dass dieser Nationalismus in freundlicherem Gewand daherkam als der dumpfe Rassismus von Neonazis, ändert nichts daran, dass es Nationalismus ist. Sie alle teilen die Motivation, "das Land" voranzubringen. So lange Geflüchtete als Bereicherung angesehen wurden (anders formuliert: So lange der*die Deutsche davon ausgegangen ist, dass Deutschland sich an den Flüchtlingen bereichern kann), zelebrierte er*sie öffentlichkeitswirksam eine (freilich nur für manche geltende) Willkommenskultur. Doch mittlerweile sieht auch der deutsche Vielfalts-Fan deutsche Interessen bedroht. Dann ist das Boot schnell voll, und das Herrschaftspersonal beauftragt nordafrikanische Regimes, um Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Dann arbeiten alle Parteien gemeinsam daran, das ohnehin bereits bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Asylrecht gänzlich zu beseitigen. Die Betroffenen sollen sich mal nicht so anstellen, sie sterben schließlich im Einklang mit deutschem Recht. Wo es sicher ist und wo nicht, das bestimmt immer noch die Kanzlerin und nicht etwa die Fakten vor Ort. Wir leben schließlich in Deutschland!

Wenn Neonazis Unterkünfte anzünden, dann erklärt die herrschende Politik dies für eine "Schande für Deutschland", denn so was gehört sich nicht - das hat man aus der Geschichte gelernt. Wenn die Bundeswehr oder Frontex Geflüchtete im Mittelmeer jagen oder lybische Warlords dafür bezahlt werden, dann ist das keine Schande für die Nation, sondern demokratisch und rechtsstaatlich legitimiert. Ja, offiziell werden die Schleuser*innen gejagt. Kurze Frage: Wenn Schleuser*innen und Geflüchtete sich gemeinsam auf einem Boot befinden und das Militär versenkt das Boot: Wer muss dann wohl alles dran glauben?

By the way: Die Schleuser*innen, die vor über 25 Jahren DDR-Bürger*innen in den Westen gebracht haben (darunter viele "Wirtschaftsflüchtlinge"), hießen "Fluchthelfer*innen" und waren gefeierte Nationalheld*innen. Aber das waren ja deutsche Flüchtlinge, das ist natürlich was anderes. Mauern und Grenzzäune findet der deutsche Michel auch nur dann schlecht, wenn sie die eigene Nation spalten. An den Außengrenzen kann man das schon mal machen als gute*r Christnationalsozialdemokrat*in. Es sei denn natürlich, er*sie sieht darin "eine Schande für Deutschland".

Doch zum Glück gibt es ja Tage wie den 3. Oktober. An denen die Deutschen endlich wieder stolz auf ihr Land sein dürfen. Stolz darauf, dass sie (sofern sie in der DDR lebten) früher wegen der Mauer nicht reisen durften und heute wegen dem niedrigen Gehalt nicht reisen können; stolz darauf, dass Mauern dort stehen, wo sie hingehören; stolz darauf, dass sie differenzieren gelernt haben zwischen guten und bösen Ausländern; stolz darauf, dass Massentötungen demokratisch geworden sind und Menschenleben retten wieder sanktioniert wird; stolz darauf, dass endlich wieder Nazis im Parlament sitzen und die anderen Parteien ihnen hinterher laufen; stolz darauf, dass er nach wie vor den Widerspruch zwischen ihm und denen die ihn beherrschen ignoriert und sich mit ihnen eins fühlt und stolz darauf, dass alle Deutschen seit 27 Jahren wieder derselben Staatsgewalt unterworfen sind. Wenn das mal kein Grund zum Feiern ist.
 
 
Die ursprüngliche Fassung dieses Textes erschien bereits im Jahr 2015 auf Facebook. Wir haben ihn an manchen Stellen an aktuelle Entwicklungen angepasst. Die wesentlichen Aspekte haben sich jedoch nicht verändert. Die ursprüngliche Variante kann hier nachgelesen werden: https://www.facebook.com/oli.kube/posts/10207645330837536.