Freitag, 4. August 2017

Worum geht es bei der Wahl?


Wir rufen weder zur Wahl noch zum Wahlboykott auf. Wir möchten jedoch auf einige Punkte aufmerksam machen. Eine komplette Analyse kann in einem einzelnen Blogeintrag, den es auch als Flugblatt gibt, natürlich nicht geleistet werden.

Was wird gewählt?

Ein Blick auf den Wahlzettel gibt Aufschluss: Es geht um die Person und die Partei, die man gerne (stärker) im Bundestag vertreten hätte. Da stehen keine politischen Maßnahmen, zwischen denen die Wählerschaft sich entscheiden kann. Es wird nicht danach gefragt, weshalb jemand eine bestimmte Partei wählt - und es ist auch unwichtig. Gleichzeitig ist die Stimmabgabe automatisch die aktive Zustimmung, dass weiterhin andere bestimmen, wie die Gesellschaft verwaltet wird und an welche Gesetze sich die Bürger*innen zu halten haben – ohne dass es möglich wäre, mit „nein“ zu stimmen. Die Stimmabgabe bei der Wahl ist zunächst das ausdrückliche „Ja“ zum Regiert-werden.

Was wird nicht gewählt?

Dafür dass viele Wahlkämpfer*innen und -befürworter*innen so furchtbar gute Demokrat*innen sein wollen, sind doch sehr erstaunliche Ansichten darüber verbreitet, worüber die Wähler*innen angeblich entscheiden: Die Zukunft Deutschlands, die Systemfrage oder zumindest einen „Politikwechsel“, die „Gestaltung“ der Gesellschaft oder die Wahlprogramme der Parteien. Dabei steht sogar im Grundgesetz (Art. 38, Absatz 1, Satz 2), dass Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.

Der Zweck des Regierens steht nicht zur Wahl: Es geht darum, politische Rahmenbedingungen für ein insgesamt erfolgreiches kapitalistisches Wirtschaften zu schaffen, damit der Laden nach innen läuft und nach außen konkurrenzfähig ist. Das ist gemeint, wenn auf Wahlplakaten oder in Talkrunden von „Deutschland“ und seinen Interessen die Rede ist. Die meisten Bürger*innen glauben, dass ihr Wohlergehen da doch mitgemeint sein müsste. Sie sind dann enttäuscht und empört, wenn sie im Alltag feststellen, dass ihre Interessen kaum oder gar nicht zum Zug kommen. Egal wie die Wahl ausgeht: Wir werden immer noch Kapitalismus haben und somit Ausbeutung durch Lohnarbeit. Der Staat wird weiterhin sein Gewaltmonopol ausüben um diese Ordnung durchzusetzen und nach außen wirtschaftlich und militärisch seine nationalen Interessen durchsetzen – und damit tausende von Menschenleben in der sogenannten Dritten Welt vernichten.

Der Wahlkampf – die Zeit unseriöser Politik

„Das ist reiner Wahlkampf, was Sie machen“, werfen Spitzenpolitiker*innen ihren Konkurrent*innen gerne vor, wenn diese eine populäre Ansicht vertreten. Auf Parteitagen wird beraten, was man dem „Volk“ erzählen muss, um möglichst viele Stimmen zu bekommen. Es geht nicht etwa darum, ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Ziel zu erreichen, sondern nur darum, wie die Partei die Wähler*innen am besten ködert. Dass Wahlversprechen nicht ernst gemeint sind, bestreitet kaum ein*e Politiker*in: Kompromissfähigkeit (also hinterher das Gegenteil von dem zu machen, was man vorher versprochen hat) ist das A und O „seriöser“ Politik. Franz Müntefering (SPD) behauptete seinerzeit, es sei „unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen.“
In der Bevölkerung ist die Ansicht, dass „die Politiker doch eh machen was sie wollen“ oder der Spruch „Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten“ weit verbreitet. Die meisten Bürger*innen wissen sehr wohl, dass ihre Wahlstimme nichts oder so gut wie nichts bewirkt. Trotzdem sind oft dieselben Leute absolut davon überzeugt, dass es unglaublich wichtig ist, wählen zu gehen.

Dass man überhaupt wählen geht, ist das wichtigste – aber für wen?

Die Kandidat*innen haben natürlich das Interesse, gewählt zu werden. Soweit so offensichtlich. Doch immer wieder hört man von Parteivertreter*innen, Gewerkschaften, dem Bundespräsidenten und anderen, das Wichtigste wäre, dass man überhaupt wählen geht. Auf den ersten Blick erscheint das seltsam, denn die Wahlbeteiligung spielt für’s Ergebnis keine Rolle, weder für die Anzahl der Abgeordneten noch für die Regierungsbildung. Es zählen die gültigen abgegebenen Stimmen. Auffällig ist auch die Umkehrung: Nicht die Bürger*innen wollen unbedingt wählen gehen, sondern Staat und Politik versuchen alles, um die Bürger*innen zum Urnengang zu motivieren. Die Wahl liegt offensichtlich nicht primär im Interesse der Bürger*innen, sondern im Interesse des Staats. Eine hohe Wahlbeteiligung bedeutet immerhin eine allgemeine Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen, auch für Wahlverlierer*innen ein Trost. Bei einem hohen Anteil an Nichtwähler*innen wird das Staatspersonal schnell nervös. Zwar bedeutet nicht-wählen keineswegs, umstürzlerische Pläne zu haben, aber Nichtwähler*innen verweigern den Herrschenden ihre aktive Zustimmung. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Politiker*innen und Vertreter*innen von Institutionen rätseln, wie der Staat das „Vertrauen“ der Menschen zurückgewinnen kann. Es ist also nicht so, dass wählen „nichts bringt“. Es bringt nur nichts für die Wähler*innen, sondern für die Gewählten und den Staat als Gesamtes.

Das kleinere Übel

Das Argument, man müsse eben das kleinere Übel wählen, um ein größeres Übel zu verhindern, ist an sich schon verräterisch: Es ist von vorherein klar, dass es ein Übel ist, dem man da seine Stimme gibt. Hinzu kommt, dass es keinerlei Garantie dafür gibt, dass das kleinere Übel sich nicht ganz schnell als das größere Übel entpuppt, sobald es gewählt ist. SPD und Grüne wurden 1998 als kleineres Übel an die Regierung gewählt und betrieben Sozialabbau in einem Ausmaß, wie es sich die vorherige Regierung aus CDU und FDP unter Helmut Kohl nicht getraut hatte.

Das Parlament als Bühne

Man könne das Parlament als Bühne und Sprachrohr für außerparlamentarische Bewegungen nutzen – und Sand im Getriebe der kapitalistischen Staatsmaschinerie sein. Durch gute und konsequente Oppositionsarbeit Aufklärung betreiben, den kapitalistischen Normalbetrieb stören und sogar kleine Zugeständnisse erkämpfen. Grundsätzlich widersprechen wir da nicht. Dass Parlamentarier*innen eine größere öffentliche Aufmerksamkeit genießen, ist offensichtlich. Eine*r unserer Genoss*innen sitzt seit 2014 im Ludwigsburger Gemeinderat, was schon einige Male Vorteile für die politische Arbeit der RSI oder in Bündnissen mit sich brachte.
Es gibt jedoch derzeit keine relevante Partei, die diesen Zweck im Bundestag erfüllen könnte oder möchte. Die Linkspartei träumt mehrheitlich von der Regierungsbeteiligung, verschreibt sich also den Zwecken des Staats. Sie hat also insgesamt nicht einmal den Anspruch an sich selbst, diese Rolle zu erfüllen. Zumal es derzeit auch keine linke außerparlamentarische Bewegung gibt, die eine linke Partei durch Parlamentsarbeit unterstützen könnte.

Wahlboykott als Protest?

Manche Kommunist*innen und Anarchist*innen glauben, nicht-wählen wäre schon eine Form des Protests oder gar Widerstands. Wie oben dargelegt, spielt die Wahlbeteiligung für’s Wahlergebnis keine Rolle. Deshalb geht es uns auch nicht darum, eine Boykott-Kampagne zu fahren. Wir möchten dazu aufrufen, sich tiefergehend mit den Zwecken des Staats und seiner Wahlrituale zu befassen. Die Erkenntnis, dass wir weder durch Wahl noch durch Wahlenthaltung die Gesellschaft nach unseren Vorstellungen ändern können, lässt uns keineswegs resignieren. Im Gegenteil: Wer eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Krieg, Armut und Umweltzerstörung möchte, sollte sich mit gleichgesinnten Menschen außerparlamentarisch organisieren und die Sache selbst in die Hand nehmen.